Dichten in der neuen Sprache
Von Zeit zu Zeit bieten wir hier die Möglichkeit, Arbeiten unserer SonntagsDialoge-Mitglieder einem größeren Publikum vorzustellen. Dieses Gedicht stammt von Vito K.:
Moderne Höhlenmenschen
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich dich fester halten und den letzten Kuss für lange Zeit fortsetzen.
Ich sähe dich und mein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht und im ganzen Körper aus, und ich würde mit offenen Armen, immer schneller werdend, auf dich zu rennen!
Im Gegensatz zu allen alltäglichen Umständen wird die Hoffnung nicht unter Quarantäne gestellt, und ich sehe all die Momente vor mir, die bald kommen werden, und ich werde mit dir das Leben genießen.
Es ist lange her, dass ich jemanden berührt habe und Wärme hatte.
Ich werde dieses ungerechte Verbot von Ihnen, Corona, nie vergessen. Ich wünschte, Sie wären ein Virus, der mit einer herzlichen Umarmung behandelt werden könnte, und ich würde Hand in Hand mit meiner Geliebten Walzer tanzen.
Die Revolution und die neue Entwicklung wurden von Ihnen gut geplant.
Sie kennen niemanden oder irgendetwas und sind ein mysteriöser Lehrer / eine unerbittliche Lehrmeisterin bis hin zu dem Punkt, dass Sie uns zu modernen Höhlenmenschen gemacht haben.
Im heutigen Jahrhundert haben Sie menschliches Wissen und Wissenschaft auf Toilettenpapier, Alkohol und Waschmittel reduziert, die auf dem Schwarzen Markt auftauchen.
Wir sind kleiner als wir es uns vorgestellt haben, und es ist erwiesen, dass die Pandemie keine Unterschiede zwischen erster und zweiter Welt macht.
Für die Dritte Welt war von Anfang an klar, schutzlos zu sein.
Überall gibt es Informationen über das Händewaschen. Wann aber ist es an der Zeit, bei all dem Dreck und der Leere unsere Herzen und Gedanken zu waschen?
Ich frage mich, ob mittlerweile unser ganzes Leben ein neues Cover und eine andere Form bekommt?
Ich weiß nicht, ob ich durch Ihre Existenz glücklich oder angewidert bin?!
Die Natur beruhigte sich nach vielen Gräueltaten. Die Nachrichten von der Bedrohung der Länder änderten sich, und Ihretwegen lehnte ich vorübergehend alles ab und lachte alleine.
Bei dieser Herausforderung werden meine Gewohnheiten wachsen und Gestalt annehmen. In diesem Fall aber werde ich mich selbst vermissen, und das war nur ein Überblick über zukünftige Bedenken.
Der Mond und das Vorbeiziehen der schwarzen Wolken darunter, es regnet, und ich starre auf die Tropfen auf der Haut meiner Hände, die so alt sind wie die Hände meines Vaters.
Ich wünschte, Sie wären nur ein Traum oder ein Albtraum, der bis morgen früh vergessen ist.
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Vito kam im Oktober 2018 im Alter von 28 Jahren nach Deutschland, auf sich allein gestellt und völlig ohne Deutschkenntnisse.
Er wollte und musste sich ein neues Leben aufbauen. Im Februar 2019 startete er seinen ersten Deutschkurs, inzwischen nimmt er online an einem C1 – Kurs teil, der auch fachspezifische Sprache vermittelt. Vito hat im Iran ein Studium zum Bauingenieur absolviert und auch schon einige Jahre in diesem Beruf gearbeitet, bis er das Land verlassen musste. Inzwischen ist sein Abschluss von den hiesigen Behörden anerkannt,
Nebenbei gilt seine Leidenschaft dem Theater. Durch eine Zufallsbegegnung gelang es ihm, eine kleine Rolle als italienischer Gastarbeiter im Düsseldorfer Schauspielhaus zu bekommen. Dort nannten ihn seine Kolleg*innen Vito. Ihm schien der Name zu seinem neuen Leben zu passen, so dass er ihn seitdem verwendet, wenn es nicht um offizielle Dokumente geht. Am Lübecker Theater hatte er schon einen Vertrag in der Tasche, als das ganze Land durch Corona zum Stillstand gezwungen wurde. Im Moment engagiert er sich beim Improtheater Colourful Minds. Er war und ist ehrenamtlich tätig, arbeitete bei einer Fahrradwerkstatt und gab geflüchteten Kindern Schwimmunterricht.
Seine Wut, seinen Ärger und seine Verzweiflung über die Folgen von Corona fasste er in diesem Gedicht zusammen. Geschrieben hat er es in seiner Muttersprache Farsi, dann ins Deutsche übersetzt. Er erzählt, dass er nicht oft Gedichte schreibt, aber sich manchmal einfach in dieser Form ausdrücken muss.
Wir wünschen Vito, dass er seine beruflichen Wünsche wahrmachen und daneben seine künstlerischen Interessen weiterverfolgen kann.